Problemaufriss

Der „Nahsinn-orientierte Ansatz“

für Rechnen, Lesen, Schreiben und Rechtschreiben

mit gleichzeitiger Nachentwicklung von

Lernvoraussetzungen

Problemaufriss

Es gibt, statistisch erfasst, ca. vier Millionen Analphabeten in Deutschland. Schließt man die Dunkelziffer mit ein, erhöht sich diese Zahl schätzungsweise auf sechs bis acht Millionen. Wie ist es möglich, dass bei einer Schulpflicht für alle Kinder, jährlich mehrere Tausend Jugendliche unsere Schulen mit nur ungenü­genden Kenntnissen im Rechnen, Lesen und Schreiben verlassen? „Nach Kretschmann u. a. (1990) ist davon auszugehen, dass ca. 3-4% der Schulabgänger (ca. 30 000 – 40 000 Schüler/-innen pro Schuljahr) die Schule ohne den Erwerb der Schriftsprachkompetenz verlassen (…) (www.alphabetisierung.de)“[1].

Man nennt diesen Personenkreis auch „funktionale Analphabeten“, weil sie nicht in der Lage sind, wie in Beruf und Gesellschaft üblich, schriftlich zu kommunizieren. Warum können so viele Kinder das Rechnen, Lesen und Schrei­ben in der Schule nicht ausreichend erlernen?

Mit dieser Frage beschäftige ich mich bereits seit mehr als vierzig Jahren. Meine Antwort darauf deckt sich weitgehend mit einer Langzeitstudie der Erziehungswissenschaftler Breuer & Weuffen, die mehr als 10 000 Kinder untersucht haben. Im Rahmen dieser Langzeitstudie mit über 600 Kindern wurden die Leistungen der ersten Klasse festgehalten. Nach 10 Jahren verglichen die Wissenschaftler die Schulabschlüsse dieser SchülerInnen mit den Leistungen am Ende des ersten Schuljahres: „Während alle Schüler mit guten Lernergebnissen im Anfangsunterricht – unabhängig von den genannten individuellen Lern­bedingungen – planmäßig den Abschluss der Klasse 10 erreichten, 85 % von ihnen mit guten und sehr guten Ergebnissen, verloren fast 40 % der Schüler mit Lernschwierigkeiten am Schulanfang später den Anschluss an die Schullaufbahn ihrer Altersgefährten. Sie wiederholten mindestens einmal eine Klasse, wech­selten in die Schule für Lernbehinderte, verließen vorzeitig die Schule usw.“[2].

Über welche Lernvoraussetzungen sollten Kinder bis zur Einschulung verfügen?

Wenn das erste Schuljahr sowohl im positiven wie im negativen Sinne eine so ausschlaggebende Rolle für die gesamte Schullaufbahn eines Kindes spielt, dann werden die „Weichen“ bereits vor Eintritt in die Schule gestellt. Die Begriffe „Lernvoraussetzungen“ oder „Vorläuferfertigkeiten“ weisen darauf hin. Die Lernvoraussetzungen oder Vorläuferfertigkeiten, mit denen die Kinder aus­gestattet sein sollten, betreffen hauptsächlich die „Werkzeuge“, die zum Erlernen der genannten Kulturtechniken gebraucht werden. Diese „Werkzeuge“ bestehen aus jenen Körperteilen der Kinder, mit denen sie das Lesen, Schreiben und Rechnen bewältigen sollen: Beim Lesen muss das Kind Lautsymbole in Sprechlaute umwandeln können. Und um das Schreiben zu erlernen, sollte es über gewisse feinmotorische Fähigkeiten der Hand / Finger verfügen, um den Stift halten und damit feine Gebilde aus Strichen, Bögen, Halbkreisen und Kreisen auf das Papier bringen zu können.

Die Umsetzung von Lautsymbolen in Sprechlaute baut auf dem Spracherwerb auf, wobei Sprach- und Schriftspracherwerb vergleichbaren Lernprozessen unterliegen[3]. Das Sprechen selbst stellt bereits eine feinmotorische Höchstleistung dar. Das heißt, das Kind sollte im Bereich der Sprechwerkzeuge über eine ausgezeichnete Bewegungsempfindung und eine gut trainierte Fein­steuerung der Sprechmuskulatur verfügen, noch bevor es eingeschult wird, um den Anforderungen beim Erwerb des Lesens und Schreibens gerecht werden zu können.

Breuer & Weuffen, die besonders Vorschulkinder untersucht hatten, erkannten dass „sich Entwicklungsrisiken jeglicher Art in diesem Alter (Vorschulalter, d. Verf.) praktisch immer auf das Motorik- und Sprachniveau auswirken. (…) Motorik und Sprache stellen gewissermaßen Leitsymptome für das allgemeine geistige Entwicklungsniveau eines Vorschulkindes dar. Kinder mit einem guten Motorikquotienten (Lehmann 1982; Göllnitz und Rössler 1975; Kuhrt 1978) und mit einer guten lautsprachlichen Kompetenz sind unter den Risikokindern und Lernschwachen seltene Ausnahmen. Dagegen weisen Kinder aller Behinderungsarten und Kinder mit unterschiedlichsten Entwicklungs­störungen fast immer Defizite im Motorik- und Sprachniveau auf“[4]. Unter „Risikokindern“ werden Kinder verstanden, von denen man annimmt, dass sie in der Grundschule Lernprobleme haben werden, weil ihr Entwicklungsstand nicht dem entspricht, was für das problemlose Lernen in einem ersten Schuljahr vorausgesetzt wird.

Weitere weitgehend unbekannte Lernvoraussetzungen

Zusätzlich zu den oben genannten offensichtlichen Handicaps im Motorikbereich kommen noch weitere hinzu, die bis heute in den Schulen kaum als lernhemmend wahrgenommen wurden. Bei diesen verborgenen Entwicklungsrückständen handelt es sich um:

a)      eine unzureichend entwickelte Seh-Hör-Verbindung (eine fehlende Verbindung zwischen Sprechbewegung und dem dabei entstehenden Laut)

b)      Synkinesien (unwillkürliche Mitbewegungen) zwischen Hand/Finger und Sprechwerkzeugen

c)      eine Fingeragnosie, das heißt eine fehlende Fingerbewusstheit

d)      „Restdefizite“ nach einer sprachheilpädagogischen oder logopädischen Behandlung

Alle vorgenannten Lernvoraussetzungen, sowohl für das Rechnen als auch für das Lesen und Schreiben lernen beziehen sich dementsprechend auf die Nahsinne Tast- und Bewegungsempfindung beziehungsweise Bewegungssteuerung im Bereich der Finger- und Sprechmuskulatur.

Inzwischen dürfte ungefähr die Hälfte unserer SchülerInnen in den ersten Klassen mehr oder weniger von einer Nahsinnbeeinträchtigung betroffen sein[5], Tendenz steigend, weil sich die Freizeitbeschäftigung der Kinder im Vorschulalter mehr und mehr auf Medienkonsum und Computerspiele verlagert. Diese Verlage­rung geht mit weniger Bewegung einher. Damit wird nach Rainer Guski die Entwicklung der Wahrnehmung[6] beeinträchtigt, während nach Manfred Spitzer in den Zeiten, in denen Vorschulkinder mit Fernsehen und zum Beispiel mit dem Hören von Märchen über Tonträger beschäftigt sind, sich die Sprache nicht entwickeln kann[7].

Die Gesamtheit der Veränderung der Spielgewohnheiten im Vorschulalter vieler Kinder bewirkt, dass die Wahrnehmung und Feinsteuerung im Bereich der Finger und Sprechwerkzeuge bis zur Einschulung einen Entwicklungsstand erreicht hat, der von den geforderten Lernvoraussetzungen für ein problemloses Lernen im Anfangsunterricht weit entfernt ist.

Die Lernprozesse im Anfangsunterricht bauen jedoch auf Vorläufer­fertigkeiten auf, die intakte Nahsinne voraussetzen. Deshalb geraten jene Kinder mit erheblichen Entwicklungsrückständen im Nahsinnbereich in den Teufelskreis von Schulversagern und reihen sich am Ende der Schulzeit oft in das Heer der funktionalen Analphabeten ein.

Die Rechtslage von Nah- und Fernsinnbeeinträchtigten im Vergleich

Kinder mit den zuvor geschilderten Entwicklungsrückständen gelten als nahsinnbeeinträchtigt, während Fernsinnbeeinträchtigte unter Seh- und Hörpro­blemen leiden. Letztere können durch technische Hilfsmittel und speziell für den Unterricht mit diesen Kindern ausgebildeten Lehrkräften das Rechnen, Lesen und Schreiben unter Einsatz intakter Nahsinne problemlos erlernen.

Im Gegensatz dazu können Nahsinnbeeinträchtigte ihre Probleme nicht kompensatorisch lösen, sondern diese Kinder brauchen in einem didaktisch-methodisch veränderten Anfangsunterricht eine Nachentwicklung ihrer Nahsinne, insbesondere im Bereich der Finger- und Sprechmuskulatur. Das ist jedoch nicht der Fall.

Aus rechtlicher Sicht dürfte die unterschiedliche Behandlung von Nah- und Fernsinnbeeinträchtigten ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot in einer Demokratie darstellen. Denn hier werden nach meiner Ansicht eindeutig Kinder mit einer Nahsinnbeeinträchtigung benachteiligt. Diese Benachteiligung bedeutet für viele SchülerInnen eine Abschulung in Schulen für Lernbehinderte, wobei der weitaus größere Anteil dieser SchülerInnen keinen Regelschulabschluss mehr erreichen kann und damit für eine Berufsausbildung kaum in Frage kommt.

Mit diesem Handbuch möchte ich Lehrkräfte, Therapeuten und Eltern dazu anregen, diesen Kindern zu helfen. Denn der „Nahsinn-orientierte Ansatz“ zum Rechnen, Lesen und Schreiben / Rechtschreiben ermöglicht es, die Nahsinne dieser Kinder im Bereich der Finger und Sprechwerkzeuge im Kindergarten oder im Rahmen der Lernprozesse zum Erwerb der genannten Kulturtechniken nachzuentwickeln.

(Aus dem Buch: „Nahsinn-orientierter Ansatz zum Rechnen, Lesen, Schreiben und Rechtschreiben lernen mit gleichzeitiger Nachentwicklung von Motorik und Sprache. Handbuch für Schule, Therapie, Kindergarten und Elternhaus“ (E. J. Jergens, 2016)


[1] U. Heimlich 2009, S. 198

[2] Breuer / Weuffen 2006, S. 23

[3] Vgl. Schründer-Lenzen 2004, S. 30

[4] Breuer/Weuffen 2006, S. 59

[5] Vgl. Breuer /Weuffen 2006, S. 18

[6] Vgl. Rainer Guski 2006

[7] Vgl. Manfred Spitzer 2012